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Laylana

Das Knirschen der Kieselsteine unter meinen Fußsohlen durchbrach die nächtliche Stille und klang in meinen Ohren unerträglich laut. Unter Herzklopfen versuchte ich, die Luft in meinen Lungen zu halten, denn wenn mich jetzt jemand entdeckte – und sei es nur durch meinen Atem –, wäre alles umsonst gewesen. Im Schatten des Palastes schlich ich, eng an die eisigen weißen Steine gedrückt, die Mauer entlang. Im Mondlicht schimmerte sie blau, genau wie der Rest des eindrucksvollen Bauwerks. Als ich die Luft leise ausstieß, kräuselte sie in kleinen Wolken um meine aufgesprungenen Lippen und umhüllte mein Gesicht. Unwillkürlich fragte ich mich, wie kalt es sein mochte, auch wenn das nicht wirklich von Belang war. Die schwarze Haremshose, die Stiefel mit Stahleinsatz und das Hemd mit Kapuze schützten mich zur Genüge. Lediglich meine Hände zitterten – doch nicht vor Kälte. Mein Körper war an die eisigen Gegebenheiten des Planeten von Natur aus gewöhnt.
Nein. Etwas beunruhigte mich.
Glücklicherweise begannen in dem Augenblick die für Marambos typischen Schneeflocken wie Wattebäusche vom Himmel zu fallen. Sie dämpften die Geräusche der Umgebung und endlich auch die meiner Schuhe im Innenhof. Adrenalin raste durch meine Adern und hielt mich auf den Beinen, während sich die Erschöpfung der letzten Stunden weiter vorankämpfte. Der schwierigste Teil lag noch vor mir.
An der Ecke zum Innenhof blieb ich stehen und spähte auf den nur spärlich beleuchteten Platz. Durch den Vordereingang konnte ich nicht in den Palast gelangen, denn die Wachposten dort waren im dauerhaften Einsatz. Im Innenhof aber, der von einer hohen Außenmauer geschützt wurde, patrouillierte lediglich eine Wache, die alle paar Minuten vorbeikam. Nachdem ich die Mauer am Wasserfall über die anliegenden Klippen überwunden hatte, standen meine Chancen nicht schlecht, von hier aus ungesehen ins Innere schleichen zu können. Doch die Wache ließ seit mehreren Minuten auf sich warten und ich konnte erst los, wenn sich ein größeres Zeitfenster auftat. Es hieß also abwarten.
Vorerst zog ich den Kopf zurück und glitt langsam an einer Säule hinab, sodass ich mich setzen konnte. Ich spürte, wie die Nachwehen des Spiels an mir zehrten, wie körperlich erschöpft ich war und wie sehr alles schmerzte – und doch musste es mir gelingen, in den Palast zu gelangen, bevor das Leben darin erwachte. So geschah es, dass ich die Augen schloss, um mich einen Moment auszuruhen. In meinem Kopf tauchten Bilder von blutroten Wasserfällen und Drachen auf, die spielerisch tanzten. Die Süße der Entspannung und eine umarmende Dunkelheit trugen mich immer tiefer und tiefer, bis ich vergaß, wo ich mich befand. Mein Kopf fiel nach vorn, dann war ich fort.
Als ich die Augen wieder aufschlug, musste ich offenbar eingeschlafen sein, denn vor mir standen der für die Wache zuständige Soldat und … der Prinzregent höchstselbst.
»… deswegen hielt ich es für ratsam, Euch zu wecken, Majestät.«
»In Ordnung. Du kannst gehen.«
Der Wachposten verneigte sich und trat ab.
Adrenalin entzündete meinen Körper. Das Blut schoss mir
aus dem Kopf und in die Beine. Ein Fluchtinstinkt. Mein Kopf kribbelte und Übelkeit überkam mich. Ich sprang auf und klopfte den Schmutz von meiner Kleidung. Mein Bruder sah an mir herab und seine Miene verfinsterte sich. Seine silbernen Haarspitzen stellten sich auf und die Muskeln in seinen Oberarmen zuckten. Als ich den Mund für eine sinnlose Ausrede öffnete, raste ein durch seine Energie gelenkter Frostschauer über meinen Körper und lähmte mich. Die kleinen Eiskristalle stachen in jede Pore meiner Haut und schmerzten entsetzlich.
»Wage es ja nicht!« Die Stimme meines Bruders war nicht mehr die, die ich kannte. Er kam auf mich zu und ließ das Eis noch tiefer in meine Haut stechen. Ich verzog das Gesicht unter Schmerzen und versuchte, mich keinen Millimeter zu rühren.
»Was fällt dir ein! Wie kannst du so unvernünftig sein? Was heißt unvernünftig … Dämlich! Ich habe dir schon so vieles durchgehen lassen, aber diesmal bist du zu weit gegangen, Laylana! Du denkst vielleicht, du kannst dir alles erlauben, aber das ist vorbei!« Er schloss einen Moment die Augen und murmelte drohend: »Verschwinde.«
Das Eis auf meiner Haut schmolz und das Gefühl für meinen Körper kehrte zurück. Augenblicklich trat ich einen Schritt von Jaromir fort und sah ein letztes Mal in sein Gesicht, doch nichts rührte sich darin. Es gab nichts mehr zu sagen. Er hatte mich auf frischer Tat ertappt.
Blitzschnell rannte ich über den Innenhof auf den Eingang des Palastes zu und trat durch die östliche Tür. Die Blicke der Wächter in der Eingangshalle waren vernichtend. Auch auf
meinem Weg nach oben blieben die Hausmädchen und Diener stehen und vergaßen vor Entsetzen, sich zu verneigen. Dass sie die Prinzessin des Wasserreichs zu so früher Stunde in dieser Kleidung zu Gesicht bekamen, konnte nur eines bedeuten …
Auf meinem Weg der Schande eilte ich die zahlreichen Stufen hinauf und lief weiter bis zu meinem Zimmer im fünften Stock. Ich öffnete die Tür und schmiss sie mit einem kräftigen Knall hinter mir ins Schloss. Meine Beine zitterten und mein Herz raste. Wie ich mich in diesem Moment fühlte, war schwer zu beschreiben. Ich dachte nicht an »Was wäre, wenn« oder »Hätte ich doch nicht«. Ich fühlte mich, als hätte ich jeden Einzelnen dieser Welt hintergangen und jede erdenkliche Regel gebrochen.
Ein großartiges Gefühl!
Erschöpft, wenn auch zufrieden, ging ich in mein Badezimmer und zog die Reiterkleidung aus. Achtlos trat ich sie in die Ecke und öffnete den Wasserhahn der perlmuttbeschichteten Badewanne. Als ich in den Spiegel schaute, der die gesamte linke Wand einnahm, starrten mich zwei silbergraue Augen mit darunterliegenden dunklen Schatten an. Das silberne Haar hing in Strähnen herunter und bedeckte meine Brust bis zum Bauch. Müde betrachtete ich meinen Körper, während sich die Wanne füllte. Ich entdeckte Schürfwunden und Kratzer, einzelne Blutergüsse und die Narbe von der Verletzung, die meinen Bruder das letzte Mal zur Weißglut getrieben hatte. Wenn ich mich recht erinnerte, war ich betrunken von der Mauer auf einen Wächter gestürzt, dessen Schwert mich dabei versehentlich durchbohrt hatte. Es handelte sich um meine rechte Schulter, nichts Lebensgefährliches, aber für Jaromir war es eine Katastrophe gewesen. Wütender hatte er nur auf mein Verschwinden am Jahrestag der Krönung meiner Mutter zur Großregentin reagiert. Ich hatte mir damals einfach Besseres vorstellen können, als dieser schrecklichen Frau zu huldigen. Alles war besser, als an sie denken zu müssen. Selbst von einer Meute Banditen durch eine entlegene Stadt auf den südlichen Inseln des Planeten gejagt zu werden, weil ich der Mutprobe, ihnen etwas zu entwenden, nicht hatte widerstehen können.
So schlimm all diese Dinge für die zukünftige Regentin einer Großmacht sein mochten; sie waren nichts im Vergleich zu dem, was ich mir eben zu Schulden hatte kommen lassen. Läge meine Bestimmung nicht darin, die zukünftige Regentin von Marambos zu sein, hieße die Bestrafung lebenslang. Nur gut, dass ich die zukünftige Regentin von Marambos war. Oder auch nicht.
Das Wasser in der Wanne schlug winzige Wellen um meine Beine, als ich hineinstieg und mein Körper die Wärme in sich aufnahm. Ich bedeckte ihn mit Schaum und legte seufzend den Kopf in den Nacken. Während meine Augen versuchten, all die Farben der Seifenblasen zu erfassen, vergaß ich die Zeit. Erst als jemand an der Tür zum Bad klopfte, wurde mir bewusst, dass ich mich eine Ewigkeit nicht gerührt haben musste. Todmüde erwachte ich aus meiner Trance. Eine hauchdünne Eisschicht bedeckte inzwischen die Wasseroberfläche und meine Haut schrumpelte wie die einer eingelegten Maros. Ich strich das feuchte Haar aus dem Gesicht und murmelte ein träges »Herein«. Wer sich auf der anderen Seite befand, ahnte ich bereits.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und Sayens roter Schopf erschien. Er bemühte sich, das Gesicht von mir abzuwenden, dennoch erkannte ich seinen betrübten Ausdruck.
»Jaromir tobt.« »Ich weiß.«

»Er sagt mir nicht, warum er so wütend ist. Ich nehme an, du bist der Grund.«
»Das stimmt wohl.«
Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Sayen trat ein, setzte sich mit dem Rücken an die Wand auf den Fußboden und schloss mit dem Fuß die Tür. Ich drehte den Kopf unauffällig zu ihm und wartete auf eine Reaktion. Er entdeckte die schwarze Kleidung auf dem Fußboden und ich sah, wie er sich die Frage in seinem Kopf selbst beantwortete. Seine wachen Augen, grün wie die saftigste Wiese auf Egá, bildeten einen scharfen Kontrast zu seinen wilden, nach allen Seiten abstehenden roten Haaren. Seine Züge waren fein und so wunderschön wie die einer Frau. An seinem linken spitzen Elfenohr trug er sieben Ringe und einen an der rechten Augenbraue, die er nun vorwurfsvoll nach oben zog.
Ich richtete mich schlagartig auf und das Wasser floss wie ein Sturzbach an mir herab. Die Wut überlagerte meine Scham.
»Was, Sayen? Was willst du?«, rief ich und das Wasser der Wanne wurde kochend heiß. Dampf erfüllte den Raum und verdeckte die Sicht. Meine Wut war so stark, dass sich meine Energie nicht länger kontrollieren ließ und das Wasser unmittelbar auf mich reagierte. Ich begriff nicht, wie es Jaromir so mühelos zu kontrollieren gelang. Vorhin hatte er in seinem Zorn den Schweiß auf meinem Körper gefrieren lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Das Wasser gehorchte ihm. Ob nun in der Luft, an meinem Körper oder im Ozean – er konnte es problemlos steuern. Doch mir wollte es bisher nicht recht gelingen.
Ein Handtuch traf mich im Gesicht. »Zuerst einmal will ich, dass du dich abtrocknest! Dein Körper verträgt auf Dauer keine so starken Temperaturschwankungen. Auch wenn dein

Bruder und du euch für unzerstörbar haltet, sage ich als euer Arzt, dem ist nicht so.«
»Du bist unser Hofmeister und mein bester Freund, aber nicht unser Arzt«, erwiderte ich und trocknete mich notdürftig ab. Dann stieg ich aus der Wanne und tapste feuchten Fußes über den schneeweißen Marmor zum Spiegel.
»Ich bin geprüfter Mediziner für Drachen, Zarken und alles, was auch nur annähernd besondere Fähigkeiten besitzt. Darüber hinaus habe ich einen Doktor in Naturheilkunde und Chemie. Wenn jemand etwas von der Anatomie eines Regenten versteht, dann ich«, korrigierte er mich scharf und seufzte beleidigt. Sayen bestand stets auf seine korrekte Anrede, da er sich als einfacher Bürger seine Stellung hart erarbeitet hatte.
»Na los. Zieh dich an. Es gibt Frühstück.«
Kurzzeitig überlegte ich, das Frühstück ausfallen zu lassen, um mich der drohenden Bestrafung zu entziehen. Doch die Vergangenheit hatte gezeigt, dass Jaromir zorniger reagierte, wenn ich mich vor der Verantwortung drückte. Außerdem bekam ich just in diesem Moment einen Bärenhunger.
Während ich mir ausmalte, was es wohl zu Essen gäbe, und mich in einen Morgenmantel wickelte, redete Sayen unaufhaltsam weiter.
»Weißt du, dass sie Jaromir wegen dir wecken mussten? Vermutlich hat der Wächter mehr von seinem Ärger zu spüren bekommen als du.«
Ich schmunzelte bei der Vorstellung, wie der Soldat zitternd an der Tür meines Bruders klopfte, der bekanntermaßen aus der Haut fuhr, wenn er keine sieben Stunden Schlaf bekam. Aber jener Wächter musste nicht mit ihm an einem Tisch sitzen und Rührei essen, während Dienstmädchen dabei zusahen, wie er einen zur Seeschnecke machte.
Sayen suchte unterdes ein weißes Kleid mit Schleppe aus meinem Kleiderzimmer heraus, welches mir durchaus übertrieben für ein Frühstück erschien, meinen Bruder jedoch besänftigen würde. »Wenn du äußerlich wie eine Prinzessin wirkst, vergisst er vielleicht dein bürgerliches Verhalten«, so der rothaarige Elf – und beschwichtigte damit vor allem sich selbst. Denn abgesehen von seinen übrigen Aufgaben, war die wichtigste, auf mich aufzupassen – und dabei hatte er gestern Nacht kläglich versagt. Selbstverständlich würde auch Sayen sich dafür vor Jaromir verantworten müssen. Tat es mir leid, dass ich meinen besten Freund in diese missliche Lage gebracht hatte? Schon, aber es ging in erster Linie um mich, nicht um ihn. Ihm wurde nicht alles verboten, was Freude bereitete. Außerdem war Sayen kein Wächter, sondern eher ein notdürftiger Ersatz, weil niemand sonst mehr herhalten wollte. Deshalb drückte Sayen gern mal ein Auge zu – auch, wenn ich ihn in Schwierigkeiten brachte. Das schätzte ich an ihm.
Während ich meine Haare trocknete, ermahnte er mich, weder Jaromir zu widersprechen noch das S-Wort in den Mund zu nehmen, doch meine Gedanken schweiften bereits nach den ersten Worten ab. Stattdessen versuchte ich, mich an den Drachenkampf von vor wenigen Stunden zu erinnern; das Hochgefühl des Fliegens, das Kribbeln, das man verspürte, wenn man etwas Verbotenes tat, und das Gefühl, eine von vielen zu sein. Teil von etwas Großartigem. Und: verdammt gut in dem zu sein, was man tat. Für einen kurzen Moment gelang es mir, in der Zeit zurückzureisen, und die Glückseligkeit überkam mich erneut. Wärme erfüllte mein Herz, dann traten die Dienstmädchen ein.
Sie puderten mein Gesicht, perfektionierten meine Züge und zwängten mich in das Kleid. Drei von ihnen zerrten zeitgleich an meinen Haaren herum. Schließlich sah ich zumindest äußerlich wie jemand aus, für den sich das mächtigste

Reich aller Welten nicht schämen musste.
Als ich die Prozedur hinter mich gebracht hatte, machten
Sayen und ich uns auf den Weg zum privaten Esszimmer des Palastes. Dabei plapperte er in einer Tour, um seiner eigenen Nervosität Herr zu werden. Auch eine Predigt über mein Verhalten blieb nicht aus. Er bat mich erneut darum, Jaromir auf keinen Fall zu widersprechen, und ich fragte mich, in welchem Jahrhundert wir lebten, und grummelte etwas Unverständliches. In dieser Lage schien Schweigen und Aussitzen die beste Lösung zu sein. Zumindest, wenn ich nicht als Eisskulptur enden wollte.
Am Speisesaal angekommen, öffneten zwei Zarken in der schwarzen Uniform des Herrschaftshauses die Flügeltüren und ließen uns stillschweigend ein. Bereits hier bekam ich einen Vorgeschmack auf das, was mir blühte, denn Jowa und Darcy ließen es sich sonst nicht nehmen, spitze Bemerkungen über mein Äußeres fallen zu lassen. Als Elitesoldaten, die sich in riesige, gefiederte Drachenhunde verwandeln konnten, stand ihnen das zwar nicht zu, aber ich sah gern darüber hinweg, weil sie zu den wenigen Wesen am Hof zählten, die mir aufgeschlossen begegneten.
Umso gravierender war jenes Unbehagen, das nun von ihnen ausging. Es bestätigte mir, dass der Palast-Tratsch und Klatsch ganze Arbeit geleistet hatte.
Der Saal, in dem mein Bruder auf mich wartete, glänzte lichtdurchflutet und erschien durch die gigantische Fensterfront, die einen herrlichen Blick auf den Ozean freigab, und den weißen Marmorboden gewaltig. Marambos, Name der Hauptstadt, des Staates und des Planeten, zeichnete sich vor allem durch diesen Ozean und – wie ich fand – die makellose Architektur aus. Draußen herrschte wundervolles Wetter und ich wünschte mir mehr als alles andere, dort sein zu können und nicht hier. Doch diese Suppe musste ich nun auslöffeln, hatte ich sie mir doch selbst eingebrockt.
In der Mitte des Saals stand ein imposanter Tisch, an dessen Ende mein Bruder saß. Auf dem Tisch befanden sich Obstschalen, diverse Gerichte, Getränke und Brot – viel mehr, als wir in einer Woche hätten essen können. Auf meinem Platz lag etwas, das ich zunächst nicht identifizieren konnte. Bei näherer Betrachtung erkannte ich jedoch, worum es sich handelte. Jemand hatte meine Reiterkleidung ordentlich zusammengefaltet und auf den Tisch gelegt. Verblüfft fragte ich mich, wie sie von meinem Badezimmer dorthin gelangt war.
Sayen versuchte, gelassen zu bleiben und eine professionelle Haltung zu wahren, doch ich wusste von seinem inneren Kampf. Die gesamte Situation erschien mir fürchterlich übertrieben und inszeniert. Ich sollte definitiv mit einer Lehre aus der Sache herausgehen.
Mein Bruder stand auf, schritt wutentbrannt um den Tisch herum und zog den Stuhl auf der anderen Seite der Tafel zurück. Den Wink verstand ich, schüttelte jedoch energisch den Kopf. O nein! Das ist ein elektrischer Stuhl, dachte ich und schnaubte verachtend. Sayen drückte von hinten gegen meinen Rücken, während ich mich vehement dagegen wehrte. Daraufhin schnipste Jaromir warnend mit den Fingern, deutete erneut auf den Platz und endlich gab ich nach und setzte mich. Der Prinzregent blieb hinter mir stehen. »Sayen, du kannst gehen. Du wirst heute bei Macrinus essen. Er wartet in der Küche auf dich.«
Ich sah die Erleichterung im Gesicht meines besten Freundes und presste die Lippen verärgert aufeinander. Sayen verneigte sich lakonisch und verließ schnurstracks den Saal. Nein, er rannte nahezu!
Feigling, schimpfte ich ihm mit Blicken nach. In Wirklichkeit hätte ich alles darum gegeben, mit dem Elf tauschen zu können. In Momenten wie diesen half nur er mir, sie durchzustehen. Vermutlich hatte mein Bruder Sayen deshalb hinausgeworfen. Er wusste von unserer engen Bindung und Sayens bestärkender Wirkung auf mich.
In der Zwischenzeit wanderte Jaromir um meinen Stuhl und stoppte dicht neben mir. Langsam sah ich zu ihm auf und erhaschte einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Die harten Züge meines Vaters schauten mit den herablassenden silbernen Augen meiner Mutter auf mich nieder. Ich erkannte stets beide Elternteile in ihm und so war es, als stünden drei Personen vor mir.
»Du erkennst, was vor dir liegt?« Seine Stimme blieb spitz. Sogleich fielen mir zahlreiche Antworten darauf ein. Zwei davon beinhalteten Flüche und waren somit unnütz für eine Versöhnung. Die Aura meines Bruders wirkte viel zu kühl und bedrohlich, als dass ich auch nur eine angemessene Erwiderung hätte finden können. Ich verspürte in diesem Moment ausschließlich angsteinflößenden Respekt.
»Nein. Liegt es unter meiner Ausrüstung?«
Ich hob die Kleidungsstücke an und linste infantil darunter. Die Finger meines Bruders bohrten sich die Rückenlehne, sodass diese gefährlich knarzte. Das war keine Antwort, die er erwartet hatte. Ich im Übrigen auch nicht. Ein Auftreten wie dieses zeigte Jaromir selten, was mir vor Augen führte, dass ich diesmal tatsächlich zu weit gegangen war. Für gewöhnlich war er herzensgut. Alle am Hof liebten ihn. Er stand in der Blüte seiner Jahre und seiner körperlichen Kraft, war gutaussehend und charmant. Nicht zu vergessen ein Genie. Doch bisweilen kam eine andere Seite in ihm zum Vorschein.
Die nächsten Worte presste er zwischen den Zähnen hervor. »Sag mal, machst du dich lustig über mich? Findest du die

Situation komisch?« Den letzten Teil schrie er.
Im nächsten Moment schlug seine Faust neben mir auf den
Tisch, sodass das Geschirr gefährlich klirrte und sogar eine Vase umstürzte. Das Wasser darin rann über den Tisch und die Speisen. Überrascht von dieser heftigen Reaktion kniff ich die Augen zusammen und hielt den Atem an. Unsicherheit machte sich in mir breit. Meine sonst so unerträgliche Selbstgefälligkeit blieb aus. Ich fühlte mich unwohl. Meinen Bruder in solcher Weise aufgebracht zu sehen, schockierte mich.
Während ich mich von dem Schreck erholte und durchatmete, lief Jaromir um den Tisch herum und setzte sich auf seinen Platz mir gegenüber.
»Wie viele sind dabei gestorben? Wie viele waren es diesmal?«
Verwirrt sah ich ihn an. »Niemand ist gestorben.«
»Also bist du diesmal für niemandes Tod verantwortlich.« »I-ich habe noch nie jemanden getötet«, stotterte ich.
Die Gefasstheit in seiner Stimme blieb trügerisch. »Bei die-
sen Spielen sterben Wesen«, rief er mit einem Mal über den Tisch hinweg, »deshalb sind sie illegal! Und jeder, der daran teilnimmt oder sie auch nur unterstützt, indem er zuschaut, ist mitverantwortlich für jeden einzelnen Tod. Du bist die zukünftige Herrscherin von Marambos! Was denkst du dir nur dabei? Sie sich anzuschauen ist eine Sache, aber daran teilzunehmen …!« Ihm versagte die Stimme. Sprachlos drehte er die Gabel zwischen den Fingern und plötzlich war seine Wut verraucht. Er strich sich durch das silberne Haar und seufzte, als gäbe es keinerlei Hoffnung mehr.
Selbstverständlich kannte ich das Gesetz, welches Drachenkämpfe oder -spiele, wie man sie nannte, verbot. Die Spiele an sich gab es seit Tausenden von Jahren – auch, nachdem meine Großmutter sie untersagt hatte. Lediglich die Bestrafungen wurden härter und die Kontrollen schärfer, doch bisher hatte es niemand geschafft, sie gänzlich zu unterbinden. Und ich würde später einen Teufel tun!
Die Enttäuschung über mich schien so groß, dass es Jaromir nicht möglich war, mir ins Gesicht zu sehen. Kein schönes Gefühl. So wartete ich darauf, dass er fortfuhr.
Jaromir war nicht nur klug, in aller Regel war er auch gutmütig und gutherzig. In Momenten wie diesen verließen ihn diese Eigenschaften jedoch, als hätte er sie mir gegenüber aufgebraucht. Ich hatte mit der Teilnahme an den Drachenspielen den Frieden gefährdet und die ohnehin schon bestehenden Zweifel an meiner Eignung bestärkt. Und Jaromir als mein Vormund trug die Verantwortung für alles, was ich tat – mehr noch als Sayen. Natürlich sah ich meinen Fehler ein. Ich war ja nicht dumm. Nur ab und an etwas … gedankenlos. Denn würde bekannt werden, dass die Prinzessin des Großreichs an illegalen Spielen teilnähme, wäre Marambos’ Autorität auf ewig dahin. Wir könnten die Vormachtstellung verlieren und Jaromir und ich damit unseren Platz in der Hierarchie. Im schlimmsten Fall gäbe es einen Krieg. Alles, wofür meine Familie Jahrhunderte lang gekämpft hatte, wäre ruiniert. Und das alles dank mir.
Jetzt blieb nur noch die Frage, warum ich es getan hatte. Warum ich mich immer wieder in Schwierigkeiten brachte, obwohl mir die Folgen stets vor Augen geführt wurden. Es hatte sich nicht um meinen ersten Kampf gehandelt. Ich besaß einen festen Platz in einer der Mannschaften und verteidigte meinen Ruf als eine der besten Spielerinnen auf Marambos. Mitunter könnte man behaupten, ich sei gelangweilt oder verwöhnt von meinem dekadenten Leben, suchte das Risiko oder würde gern meinen Bruder in die Verzweiflung treiben, der von meinen Eltern einst bevorzugt behandelt worden war.

Psychologisch betrachtet fühlte ich mich vielleicht vernachlässigt, weil Jaromir die gesamte Aufmerksamkeit als Prinzregent zukam, aber all das erklärte nicht annähernd, warum ich mein Leben riskierte und den Ruf des mächtigsten Planeten dieser Dimension aufs Spiel setzte. Jedenfalls nicht zur Genüge.
»Ich weiß, warum du das tust.«
Jaromir riss mich unvermittelt aus meinen Gedanken. »Ach ja?« Ich sah meinen Bruder misstrauisch an. Mir
war nicht klar, ob er es wirklich wusste oder ob er mich mit seiner Erklärung nur erniedrigen und mir vorwerfen wollte, wie primitiv ich dächte. Das Reiten lag mir und ich liebte es, liebte die Freiheit und das Adrenalin – aber davon verstand er nichts, weil er es selbst nie versucht hatte. Wie also sollte er nachvollziehen, dass es meine einzige Freude war? Dass die Drachenkämpfe die einzige Möglichkeit waren, nicht an den Anforderungen von Marambos zu ersticken?
Aber er sagte nichts. Er sah lediglich enttäuscht aus dem Fenster auf den Ozean. Die Sonne glitzerte verführerisch auf den Wellen. Ob Jaromir das Gefühl von Meerwasser auf seiner Haut noch kannte? Oder hatten seine Verpflichtungen und sein Stolz ihn alles Schöne auf diesem Planeten vergessen lassen?
Einen Moment erinnerte er mich an unsere kaltherzige Mutter, die mir gegenüber auch nie ein gutes Wort gefunden und nichts von Freuden außerhalb der hohen Palastmauern gehalten hatte.
»Was wäre, wenn du bei den Spielen sterben würdest? Ist dir bewusst, was dann geschieht?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: »Dieses Reich wäre dem Untergang geweiht. Wenn ich sterbe, ist das unwichtig. Aber du wirst die Mutter der nächsten Prinzessin. Nur die Regentin gibt das Gen weiter, das uns diese Kräfte schenkt.« Er schnippte mit den Fingern und sämtliche Flüssigkeiten auf dem Tisch begannen zu schweben. Große und kleine Blasen aus Wasser und Säften tanzten über den Tellern. »Deshalb wird immer ein Mädchen geboren. Sobald das geschehen ist, wird die Regentin unfruchtbar. Ich lebe nur, weil du später geboren wurdest. Ohne dich stirbt diese Blutlinie aus, und damit das Vermächtnis von Marambos. Es gäbe keine Wasserregentin mehr. Nie wieder.«
Die Flüssigkeiten kehrten in ihre Gefäße zurück und Jaromir atmete hörbar aus. Ich kniff mir in die Nasenwurzel und knirschte mit den Zähnen. Blut und Schicksal und Ehre. Erneut brach die bekannte Diskussion zwischen uns aus.

Hier kannst du weiterlesen. Möchtest du die gesamte Leseprobe sehen, kannst du hier an den Anfang des Kapitels springen 🙂

Marambos Regentschaft

17,00 

Auch Mutter hatte damals schon von nichts anderem gesprochen.
»Und was war mit Tante Kida?«, fragte ich provokant. »Lanestencia hat auch überlebt. Hast du dich nie gefragt, warum in jedem Reich zuerst ein Prinz und dann eine Prinzessin geboren wurde? Zufall? Was soll das deiner Meinung nach für einen Sinn haben, he?« Wieder einmal fuhr ich völlig aus der Haut. »Vielleicht zeigt uns die Natur damit, dass die alten Sitten nichtig geworden sind. Die Welten entwickeln sich weiter. Was ist, wenn meine Kinder später nicht mehr das Wasser kontrollieren können oder wenn das Gen eines Tages bei normalen Bürgern auftaucht? Wie bei Azada. Diese Monarchie ist längst überholt!«
Was zum Donnerwetter redete ich da? Wieso kam ich jetzt auf dieses heikle Thema? Prompt schloss ich den Mund, um nicht noch mehr Unheil zu stiften. Jaromir richtete den Blick auf mich und in seinen Worten lag absolute Bestimmtheit. Nichts konnte an seinen Überzeugungen rütteln. Durch seine Adern floss die Loyalität zum Reich.
»Lay, das Haus Valengades existiert so viel länger als die übrigen Herrscherfamilien. Und auch nach ihnen werden wir weiterbestehen. Es ist unsere Pflicht, zu regieren und die Erblinie fortzusetzen.«
»Woher willst du das wissen? Woher willst du wissen, dass es ewig so weitergehen wird? Ich möchte diese Last nicht auf meinen Schultern tragen! Ich will kein Brutkasten sein, der nur die Aufgabe hat, die nächste Seite zu schreiben und den Stift dann weiterzureichen. Ich möchte über das Ende entscheiden! Und immer dieses Gerede von Pflicht. Marambos ist so fortschrittlich auf dem Gebiet der Forschung und so veraltet, wenn es um Politik und Kultur geht.«
Seine Brauen zogen sich zusammen. »Was willst du damit sagen?«
Ich lehnte mich zurück und stieß einen langen Atemzug aus. »Ich weiß es doch auch nicht.«
Jaromir beobachtete mich besorgt. Tief in mir spürte ich seinen Blick und auch, dass sich seine Gedanken gerade im Kreis drehten. Er wusste, dass er mich wieder einfangen musste, ohne den Streit eskalieren zu lassen. Denn eines war noch wichtiger als mein Benehmen: dass ich die Nerven behielt.
»Du hast Angst, Lay. Angst, dass du dem Ganzen nicht gewachsen bist. Und bevor du unabsichtlich versagst, verhältst du dich absichtlich falsch.«
»Blödsinn.«
»Von mir aus. Aber sei dir gewiss, dass du nicht versagen wirst. Ich bin an deiner Seite. Sayen ist es. Du hast das mächtigste Reich hinter dir und starke Verbündete. Und deine Tochter wird dieselben Fähigkeiten haben wie du, wie unsere Mutter und deren Mutter. Es gibt keinen Grund, warum die Biologie bei dir eine Ausnahme machen sollte.«
Ich verschränkte die Arme und kaute auf meiner Unterlippe. Mein gesamter Körper stand unter Spannung und mein

Herz klopfte wie wild. Der Druck in meiner Brust löste sich, verschwand jedoch nicht gänzlich. Ich fühlte mich klein und schwach und unfassbar dumm.
Die Wellen des Ozeans schlugen an einen Felsen, als ich kleinlaut erwiderte: »Manchmal denke ich, dass ich das Spiel bereits verloren habe, bevor es überhaupt begonnen hat.«
Die Worte hingen einige Sekunden in der Luft, bis mein Bruder darauf antwortete. »So etwas darfst du nicht denken. Vergiss für einen Moment einmal alles Überflüssige. Es geht dir gut. Uns geht es gut. Marambos erblüht und seit Jahrhunderten gab es keinen Krieg. Sei dankbar und glücklich, Lay. Du hast allen Grund dazu.«
Und dann lächelte er und sah dabei so liebevoll aus, dass es mich in Wärme hüllte. Seine bedingungslose Liebe und Fürsorge entwaffneten mich. Was sollte ich darauf erwidern? Ich wollte Jaromir nicht in den Rücken fallen oder ihm Probleme bereiten. Wollte ich wirklich nicht. Das hatte er nicht verdient. Auch er wollte nur alles richtig machen. Diese Spiele waren über alle Maßen gefährlich – für mich und unsere Dynastie. Natürlich konnte mir jederzeit etwas passieren und besonders unauffällig gab ich mich auch nicht. Mein Gesicht und meinen Namen kannten über dreißig Millionen Bürger allein in diesem Reich. Doch selbst wenn ich mir Jaromirs Worte zu Herzen nehmen würde, so gäbe ich doch einen wichtigen Teil meines Lebens auf und etwas, das mich wahrhaftig erfüllte. Und wie oft hatte ich das schon tun müssen? Meine Tage und Abläufe waren vorbestimmt. Was ich essen und anziehen durfte – war vorbestimmt. Wie ich mich zu verhalten hatte … war vorbestimmt.
Der Druck in meinem Innern nahm erneut zu und das Blut pochte in meinem Hals. Es fühlte sich an, als legte jemand gewaltige Hände um meinen Brustkorb und drückte mit aller Macht zu. Ich schnappte nach Luft, doch es genügte nie. Das musste aufhören! Dieses Gefühl und der Druck, die Erwartungen …
»Jetzt gibst du mir sogar vor, dass ich glücklich sein soll«, flüsterte ich und meine Finger umklammerten die Armlehne des Stuhls. Ob mein Bruder das Gesagte verstanden hatte, erkannte ich nicht. Stattdessen hob ich den Blick und funkelte zu ihm hinüber. Es reicht, dachte ich. Eine neue, mir unbekannte Stimme in meinem Kopf erklang, die mir befahl, endlich für mich einzustehen.
»Zurück zum eigentlichen Thema«, unterbrach ich die sentimentale Stimmung, da ich es nicht länger ertrug. »Die Drachenkämpfe. Du hast deine Finger überall, Jaromir. Keine der Entscheidungen liegt bei mir, obwohl ich es bin, die bald deinen Platz einnimmt. Also sage ich: Das Spielen ist etwas, dass ich mir nicht nehmen lasse.«
Seine Mimik wurde schlagartig hart. Ich spürte, wie sich etwas in seinen Gedanken zuspitzte. Es war wie ein Druckaufbau, kurz vor einem Gewitter. Mir schwante nichts Gutes.
»Meine Aufgabe ist die Führung des Reichs, bis du volljährig bist, und dich zu schützen – am meisten vor dir selbst.« Seine Stimme dröhnte. »Bisher war ich dabei sehr wohlwollend und habe versucht, die Vernunft walten zu lassen. Wenn du mir aber keine Wahl lässt, dann sorge ich dafür, dass du es lässt.«
Vorlaut wie ich war, lachte ich nur. »Ach, und wie willst du das anstellen?«
Jaromir erhob sich und stützte die Fäuste auf den Tisch. Er sah mich entschlossen an und obwohl ich eben noch mutig Töne gespuckt hatte, wurde ich klein in meinem Stuhl.
»Ich sage deine Krönung ab. Du bist noch nicht so weit.« Sämtliches Geschirr, Teller, Besteck und Gläser flogen mit einer einzigen Bewegung meiner Arme vom Tisch. Der Krach war ohrenbetäubend. Im selben Moment sprang ich auf, während der Stuhl hinter mir umstürzte. Keines der Dienstmädchen wagte es, sich zu bewegen oder den Stuhl gar aufzustellen. Der gesamte Saal stand fassungslos um uns herum und fürchtete die nächste Reaktion. Als ich endlich die richtigen Worte fand, war die Luft zwischen meinem Bruder und mir zum Schneiden dick.
»Jaromir, hier geht es nicht um eine banale Strafe oder Hausarrest. Das klingt wie Hausarrest, aber das ist es nicht!«
Mein Puls raste und ich vergaß alles um mich herum. Meine Ohren pochten und mein Gesicht wurde heiß. Starr blieb ich am Platz und vernahm meinen hysterischen Atem. Wie erniedrigend, dachte ich. Man wird mich verspotten! Mein Ansehen ist damit endgültig dahin.
Jede Regentin begann ihre Herrschaft an ihrem zweihundertsten Geburtstag. Ich stand kurz davor. Um genau zu sein, wurden die Feierlichkeiten bereits geplant. Was dachte er sich nur dabei? Shira und Azada hatten ihre Krönung schon hinter sich und ich wollte auf gar keinen Fall nach Ro den Thron besteigen! Ro zählte nur zehn Jahre weniger als ich, dennoch hatte ich das Vorrecht. Nicht auszudenken, was die Vier Reiche über mich dächten, sollte Jaromir seine Drohung wahr werden lassen!
In meinen Ohren hörte ich die Worte meiner Mutter: Du bist schwach. Eine Schande für mein Reich. Nicht würdig.
Nein. Das wollte ich nicht. War es doch mein Recht, zu herrschen. Mutter durfte nicht recht behalten! Jaromir musste übergeschnappt sein!
Nie zuvor bedachte ich meinen Bruder mit einem derart verhassten Blick. Feuerspuckend zischte ich:
»Wenn du schon über mein Leben entscheidest, willst du mir dann nicht gleich noch einen Ehemann aussuchen? Ich meine, hat Großmutter das für Mutter nicht auch so gehandhabt, als an ihrer Eignung gezweifelt wurde?« In diesem Moment verabscheute ich ihn aus tiefstem Herzen und eigentlich wollte ich ihm nur ein schlechtes Gewissen bereiten. Seine Antwort überraschte mich deshalb.
Jaromirs rechter Mundwinkel zog sich nach oben, aber das Lächeln blieb bitterer Ernst. »Wenn es sein muss … Aber ich denke nicht, dass irgendjemand ein pubertierendes Kind heiraten möchte.«
»Was fällt dir ein!«, kreischte ich. »Ich verklage dich! Ich gehe vors Parlament und verklage dich wegen Verletzung der Bürgerrechte!« Ich wusste nur zu gut, dass es Unsinn war, was ich da redete. Aber ich hatte einen Punkt erreicht, an dem ich ihn genauso verletzen wollte, wie er es mit mir tat. Nur leider zeigte mein Verhalten bei Jaromir keine Wirkung. Er war nach all den Jahren schlichtweg daran gewöhnt.
»Im Moment bin ich dein oberster Richter«, sagte er. »Du kannst mich gern in fünfzig Jahren einsperren, wenn du dann Regentin bist.«
»Fünfzig Jahre?!« Mir wurde schlecht. Die Luft im Speisesaal gefror und kräuselte sich bedrohlich.
Jaromir setzte noch eins drauf. »Sagen wir sechzig.«
Das war nun wirklich übertrieben und sein Ziel bestand ohne Zweifel darin, Überlegenheit zu demonstrieren. Mit Bestrafung hatte das nichts mehr zu tun. Und er wusste nur zu gut, dass mich nichts mehr einschüchterte als die Tatsache, dass er die Handhabe über meine Krönung besaß. Das Spiel war verloren.
Von meiner Wut hervorgerufen, begann es im Speisesaal zu schneien. Dicke Flocken fielen aus kleinen Wolken über dem Tisch und unser Frühstück verschwand unter einer weißen Schicht. Jaromir wischte den Schnee, der gleichermaßen mein Gefühlschaos darstellte, unbeeindruckt von seinem Teller, während die Dienstmädchen verzweifelt versuchten, das wertvolle Inventar vor einem Wasserschaden zu schützen. Inzwischen hätte man einen Schneemann bauen können.
Sein sonst so warmherziges Lächeln und die treuen grauen Augen in dem perfekt geschnittenen Gesicht konnten mich nicht über sein wahres Wesen hinwegtäuschen. Vielleicht konnte er damit jede Frau und jeden Mann einnehmen – mich aber nicht.
In einem letzten Aufbegehren sprach ich: »Ich wünschte, du müsstest Ro heiraten! Einfach, damit du weißt, wie sehr man jemanden quälen kann.«
Er schwieg und setzte sein Frühstück fort. Das Gespräch schien beendet. Ich stampfte auf und ein durch meine Kraft gebildeter Eispflock stellte den umgestürzten Stuhl aufrecht hin. Ich war es leid. Erschöpft von dem Gespräch und der schlaflosen Nacht ließ ich mich darauf fallen. Wie sehr ich es hasste, dass er mir überlegen war! Niemandem sonst stand es zu, über mich zu entscheiden. Ich wollte nichts lieber, als ihm klarzumachen, dass das bald ein Ende hatte. Aber war das wirklich meine Krönung wert? Getrieben durch meine Wut zog ich es durchaus in Betracht. Reiner Irrsinn, das verstand sich von selbst. Und natürlich wusste Jaromir das auch.
Vielleicht konnte Sayen ihn beschwichtigen. Auf ihn hörte mein Bruder hin und wieder, auch wenn er sich nur selten Tipps hinsichtlich meiner Erziehung geben ließ. Als Prinzregent und oberster Militär musste er das auch nicht. Selbst wenn meine Chromosomen mich berechtigten, Regentin zu sein; er würde den Rest seines Lebens das Reich führen, denn ich konnte es nicht. Er entschied, was das Beste für jeden Einzelnen war. Auch für mich. In dieser Hinsicht tat er mir mit seinen 270 Jahren leid. Als unsere Eltern vor siebzig Jahren ins Exil gegangen waren, um die Macht der dritten Generation zu überlassen, hatte sich Jaromirs Leben kaum verändert. Im Gegensatz zu mir besaß er keine Kindheit. Für ihn galt Lernen, Wissen, Herrschen. So lang, bis ich das richtige Alter besaß, um ihm all das wieder zu nehmen. Unser System fußte auf dem Schutz unserer Blutlinie. Die Regentin sollte in erster Linie die Nachfahren sichern, denn nur sie konnte es. Daher lag die Macht bei ihr, auch wenn viele fürchteten, dass sie dadurch ihre erste Pflicht vernachlässigte. Durch die Eigenheit dieser Generation jedoch, nämlich, dass es in jedem Herrschaftshaus einen Prinzen und eine Prinzessin gab, bestand diesmal die Möglichkeit, mich und alle anderen Regentinnen von diesen Geschäften fernzuhalten. Es schien also im Sinne der Götter, den männlichen Erben mehr Macht zuzusprechen.
Für meine Familie hätte es diesbezüglich nicht besser laufen können, denn Jaromir übertraf alle Erwartungen. Niemals zuvor bewies ein Valengades derartiges Geschick in der Politik und Führung des Reichs. Auch unseren Eltern war sein Talent nicht verborgen geblieben, deshalb hatte er die Ausbildung erhalten, die eigentlich mir zustand.
»Wie kannst du nachts mit dem Wissen schlafen, dass ich all deine harte Arbeit zunichtemachen kann?«
Er sah von seinem Teller auf und schaute mich verwundert an. »Warum solltest du? Und was meinst du mit harter Arbeit?«
Ich drehte den Stoff meines Kleids zwischen den Fingern. »Du weißt, was ich meine.«
Seine Augen blitzten noch immer suchend nach einer List. Dann begriff er. »Das wirst du nicht. Es wird anders sein, wenn du …«

»Wenn ich regiere? Deiner Meinung nach ist dieser Tag noch lange nicht gekommen. Das ergibt keinen Sinn, Jaromir. Wie soll ich mit meiner Verantwortung wachsen, wenn ich keine besitze?«
Er hielt inne und überlegte. Dieser Äußerung konnte er nichts entgegensetzen. Stattdessen machte er einen Vorschlag. »Beweise es mir.«
»Was?«
»Beweise, dass ich dir Verantwortung übertragen kann. Verhalte dich, wie es sich für eine zukünftige Regentin gehört, und ich höre auf, dich zu bevormunden.«
»In Ordnung«, gab ich leichthin von mir. So richtig hatte ich ihm gar nicht zugehört.
Jaromirs Präsenz wurde bedrohlicher. »Warte ab, Lay. Ich habe dein Vergehen von letzter Nacht nicht vergessen und muss dafür den Kopf hinhalten. Das ist deine letzte Chance. Wenn du noch ein weiteres Mal auffällst, nur ein einziges Mal, war es das endgültig. Dann entziehe ich dir alle Freiheiten, die du noch besitzt. Verstanden?«
Er meinte es also ernst? Sollte das bedeuten, derartige Gespräche würden mir fortan erspart bleiben? Ich bekäme die Chance, meine eigene Herrin zu sein, und dürfte tun und lassen, wonach mir der Sinn stand?
In dem Fall musste ich nicht lange überlegen. Wie schwer konnte es schon sein, sich eine Weile an die Regeln zu halten? Aber …
»Meinst du das wirklich ernst?«, fragte ich skeptisch. Jaromir nickte bestimmt. Der Ausdruck in seinem Gesicht nahm mir auch den letzten Zweifel. Ich konnte mein Glück kaum fassen! »Dann sage ich ja!«
Mein Bruder legte die Gabel beiseite, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und rieb sich die Hände. »Nun gut. Dein Unterricht beginnt in wenigen Minuten. An deiner Stelle würde ich mich beeilen.«
Ich stutzte. »Jetzt sofort? Ich habe noch nicht gegessen.«
Jaromir erhob sich und ordnete seine Kleidung. Erst jetzt fiel mir auf, dass er bereits seine Uniform trug. »Eine Regentin ist stets pünktlich. Du wirst den Meister nicht enttäuschen.«
Ich warf einen sehnsüchtigen Blick auf all die köstlichen Speisen und bereute unsere Abmachung bereits. Doch dann ergriff mich der Ehrgeiz und entschlossen wollte ich mich auf den Weg zu meinem Unterricht machen. Doch kurz bevor mir die Leibwächter meines Bruders die Türen öffnen konnten, rief Jaromir nach mir.
»Lay!«
Ich drehte mich um und fing eine Maros, eine dunkelblaue Frucht mit bittersüßem Geschmack.
»Enttäusche mich nicht.«

Laylana

Die Anstrengungen vom Drachenkampf steckten mir noch immer in den Knochen, was sich unweigerlich auf mein Konzentrationsvermögen auswirkte. So verwunderte es weder den Lehrmeister noch mich, dass der Unterricht wenige Stunden nach meinem Vergehen schleppend verlief. Von spaßigem Lernen konnte keine Rede sein, denn jede Regentin musste in den Genuss einer einwandfreien, wenn nicht sogar überragenden Bildung kommen. Die Ausbildung der Regentenfamilie zählte in Marambos zu den umfangreichsten und damit teuersten, wobei der heutige Tag aus meiner Sicht eine reine Verschwendung von Staatsausgaben darstellte, denn just in diesem Moment schlief ich ein weiteres Mal ein.
»Hoheit!« Die Stimme des Meisters ließ mich zusammenzucken und ein grunzendes Geräusch entwich meinen Lippen. Mit einer leidvollen Grimasse wischte ich mir beidhändig übers Gesicht.
»Ja doch«, stöhnte ich und versuchte erneut, meine Konzentration auf das Lehrwerk vor mir zu richten. Meister Oró sah mich bitterböse an und zerrte empört an seiner Robe, als schnüre sie ihm die Luft zum Atmen ab.
»Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass Ihr mir nur ein einziges Mal die Aufmerksamkeit schenkt, die sonst jedweder Unsinn oder gar Untrieb von Euch bekommen?« Der alte Herr lief purpurn an und begann vor lauter Schnaufen zu schwitzen.
Das Verständnis für seine Verstimmung fehlte mir. »Ich bin anwesend. War sogar pünktlich. Was zum Donnerwetter wollt Ihr noch?«
»Vielleicht sollten wir stattdessen – passend zum Anlass – die Statuten des Rechts studieren, um Euch Euer Vergehen und den Grund für den Zorn Eures Bruders vor Augen zu führen. Beliebt Euch das mehr?«
»Von mir aus«, gab ich unbeeindruckt zurück und schlug das Buch über das Finanzwesen in Marambos beinahe schon enthusiastisch zu. Nichts widerte mich mehr an als Liquiditätssicherung. Abgesehen von der Tatsache, dass Jaromir Oró über alles informierte, was ich mir zu Schulden kommen lassen hatte.
Anscheinend stellte auch der Wechsel des Unterrichtsthemas den Meister nicht zufrieden, denn er entriss mir das Buch und umklammerte es wie einen Schatz. »Ich werde Euch doch nicht noch für Eure Frechheiten belohnen! Dann schreiben wir eben einen Test und die Ergebnisse werde ich dann Eurem Bruder vorlegen!«
Auch diese Drohung zeigte meinerseits nur wenig Wirkung. Stattdessen drückte ich auf das Endstück meines Stiftes und signalisierte damit ein überhebliches Nur-her-damit. Orós Gesicht verzerrte sich zu einer Maske der blanken Empörung. Je gleichgültiger ich mich zeigte, umso mehr gelang es mir, ihn aus der Fassung zu bringen. Seit meinen frühesten Lebensjahren zählte dies zu meinen liebsten Beschäftigungen. Dumm nur, dass ich mich dank der Vereinbarung mit Jaromir am Riemen reißen musste.
Der Meister stapfte zu seiner Tasche und begann schimpfend darin zu wühlen. Ich verdrehte die Augen und ließ den Blick schweifen. Außer uns beiden befand sich niemand in der Bibliothek des Palastes, sodass des Meisters Flüche in jede noch so kleine Ecke drangen. Die Höhe begünstigte die Akustik. Bodentiefe Fenster hüllten den blütenweißen Saal in Licht, während sich die Sonnenstrahlen in dem polierten Marmor des Fußbodens spiegelten. Um mich herum erhoben sich in Regalen aus Glas meterhoch die gesammelten Werke der Vier Reiche, verteilt auf fünf Etagen, die über Wendeltreppen zugänglich waren. Jedes noch so kleine Detail glänzte in einem makellosen Weiß, wodurch die Bibliothek vollkommen unangetastet und in dem für Marambos so typischen minimalistischen Perfektionismus erschien. Mein Bruder konnte Stunden an diesem Ort verbringen, wohingegen mich ein Gefühl von Kälte und Einsamkeit überkam. Der zweite, abgetrennte Teil des einstigen Tempels reizte mich viel mehr, denn dieser war zu Ställen umgebaut worden.
»Wenn ich überlege, dass Euer Bruder einst mein bester Schüler war, frage ich mich wirklich, ob …«
»Ob wir tatsächlich verwandt sind?«, beendete ich den Satz des Meisters. »Ob ich bei meiner Geburt auf den Kopf gefallen bin? Oder ob meine Eltern mich nicht vielleicht sogar vertauscht haben?«
»Schweigt still, Laylana! Wie könnt Ihr Euch nur erdreisten, so abfällig über Eure Eltern zu sprechen? Ihr wart das langersehnte Kind der Regentenfamilie, wie Ihr sehr wohl wisst.«
»Nur, weil unsere Kultur es so vorsieht«, flüsterte ich in mich hinein und mein Bauch krampfte.
Ich grub die Zähne in die Unterlippe und versuchte, nicht darüber nachzudenken. Es galt allein den Test zu bestehen und meinem Bruder damit zu beweisen, dass ich mich ändern konnte – dass ich keine Vormundschaft brauchte. Verbissen lehnte ich mich auf meinem Platz an dem runden Tisch zurück und wartete darauf, dass Oró mir das Papier vorlegte. Es handelte sich um einen banalen Ankreuztest mit je drei Antwortmöglichkeiten pro Frage – und bereits bei der ersten Frage fürchtete ich zu scheitern. Skeptisch warf ich einen Blick auf meinen Lehrer. Dieser nahm mir gegenüber Platz und schaute selbstgefällig. Beinahe genüsslich fuhr er sich mit seinen dicken Fingern durch den Vollbart und grunzte: »Gibt es ein Problem, Prinzessin?«
Ich schnaufte und zog das Blatt demonstrativ ein Stück näher zu mir heran. Natürlich rechnete Oró mit meinem Scheitern. Am Unterricht nahm ich stets nur halbherzig teil und meine Antworten waren viel mehr grotesk als geistreich. Mein Verhalten blieb allzeit vorlaut und zynisch, sodass kein Meister – ausgenommen Sayen und Oró – sich meiner mehr annahm. Ich selbst besäße an ihrer Stelle nicht die Lust, mit mir zu arbeiten! Meine erste Ausbildung zur Ärztin hatte ich aufgrund von – nun ja – gelegentlicher Ohnmacht beim Anblick von Gedärmen abgebrochen. Die Autopsie-Stunden waren einfach nichts für mich. Und alles andere interessierte mich schlichtweg nicht. Ein klein wenig stolz war ich auf meinen Rausschmiss beim Militär, weil ich einst mit dem Drachen des Feldwebels das Lager der Versorgungsarmee in Brand gesteckt hatte. Witzig fand den Vorfall aber nur ich. Und mein Vorschlag, Schauspiel zu studieren, wurde von Jaromir abgelehnt, nachdem ich einer unserer Küchenhilfen hatte weismachen wollen, an einer Weintraube zu ersticken. Dass sie daraufhin in Tränen ausbrechen und ihre Stelle kündigen würde, konnte nun wirklich niemand ahnen …
Schlussendlich tat ich es meinem Bruder gleich und wählte Politikwissenschaften als Hauptfach. Da Geschichte ein Teil davon war, konnte ich zumindest in diesem Bereich glänzen. Zu hoffen blieb, dass er auch Teil des Tests war …
Resigniert widmete ich mich wieder der ersten Frage: In welchem Jahr wurde das Herrschaftssystem des Reichs Marambos festgeschrieben?
Als mögliche Antworten wurden A) die Zeit der Reichsgründung, B) das Jahr der Wiederauferstehung zur Krönung Laywas, meine Großmutter, und C) das Jahr der Krönung Layruca Valengades’ zur Großregentin, meine Mutter, angeboten.
Eine Fangfrage. Beinahe hätte ich B angekreuzt, doch die Frage richtete sich offensichtlich nach dem aktuellen System. Vor langer Zeit war Marambos ein Stadtstaat auf einem anderen Planeten gewesen, welcher nach einer Umweltkatastrophe völlig zerstört worden war. Es war also anzunehmen, dass das Jahr der Wiederauferstehung mit der Festschreibung einer neuen politischen Ordnung die Lösung sein musste. Doch diese Ordnung wurde nach dem Großen Krieg und mit dem Machtantritt meiner Mutter als Herrscherin über alle Reiche überschrieben. Das politische System blieb weiterhin bestehen, doch wurden die Regenten von Marambos als höchste Herrschaftsinstanz berufen, um die Grundordnung zu sichern. Da dies für alle Reiche eine neue politische Ordnung war und damit auch für Marambos, konnte nur C die korrekte Antwort sein. Ich kreuzte also das Jahr der Krönung Layruca Valengades’ zur Großregentin an.
Frage zwei betraf die Aufgaben der Generäle und Minister in einem monarchischen Herrschaftssystem. Und auch wenn ich sie seit jeher als nichtsnutzige alte Männer bezeichnete, hatte mir Jaromir oft genug ihre Aufgabenbereiche erklärt. So sorgten sie in verschiedenen Aufgabenbereichen der Exekutive, Legislative und Judikative für die Umsetzungen politischer Entscheidungen. Zudem bildeten sie zusammen mit den mächtigsten Vertretern der übrigen Reiche das Parlament. Eine Instanz, die Zusammenarbeit und Frieden aller Planeten fördern sollte und bei großen politischen Entscheidungen mitwirkte. Das Parlament verdankte seine Existenz meiner Mutter, die eine Gewaltenteilung für sinnvoll hielt, um die Macht der Herrscher einzuschränken. In meinen Augen reiner Unsinn, denn schlussendlich handelten die Minister und Generäle sowieso nach dem Willen ihrer jeweiligen Regenten.
Mit Schwung und von mir selbst überrascht kreuzte ich erneut C an. Und auch die restlichen Fragen konnte ich nach kurzem Nachdenken problemlos beantworten. Meine anfängliche Angst stellte sich als unbegründet heraus. Das meiste betraf mich oder meine Familie, von daher wäre Ratlosigkeit tatsächlich ziemlich peinlich gewesen. Beispielsweise Frage acht:
Welche Charakteristika zeichnen das Großherrschertum der Valengades aus?
Zum einen war da unser Familienname. Regentenfamilien besaßen als Zeichen ihrer Vorherrschaft die weibliche Endung auf »a« oder »áh« – so wie in Furiosa, Warenáh und Mangea. Dies zeigte den Adelstitel an und existierte bereits seit der Vorzeit. Um aber die übergeordnete Stellung von Marambos unter den Regenten zu verdeutlichen, bekam der Nachname meiner Familie zusätzlich den Anhang »des«, was so viel bedeutete wie »groß«. So wurde aus Valenga der Name Valengades und aus dem Wasserreich Marambos das Großreich Marambos.
Außerdem bestimmte mein Planet die Steuern und besaß das Recht, im Falle einer Gefahr für den Frieden der Vier Reiche in die Souveränität eines anderen Reichs einzugreifen. Doch – so trichterte Jaromir es mir ein – war dies keinesfalls Grund zu Hochmut. Die Namenserweiterung um das kleine Wort »groß« brachte lediglich große Verantwortung mit sich, wie er stets zu sagen pflegte.
Ich schnalzte mit der Zunge und gab als Antwort A) Namensgebung und B) Erweiterung der Rechte an.
Es folgten Fragen zur Bedeutung und politischen Korrektheit der divergenten Sprachen, denn Marambosisch stach mit seiner Lautschrift zwischen den sonst verwendeten Alphabetschriften hervor, und auch ein paar Fragen zur geschichtlichen Entwicklung der unterschiedlichen Planeten. Allgemein konnte ich sehr solide auf jede Frage antworten und staunte über mein vorhandenes Wissen. Anscheinend war es mir gelungen, aus dem ständigen Gemecker von Meister Oró und Jaromir wichtige Informationen herauszufiltern und abzuspeichern. Aber nach 199 Jahren sollte man auch meinen, dass zumindest etwas hängen geblieben war.
Mit einem Mal verließ mich die Freude über mein Wissen jedoch, als ich merkte, dass ich auf jede Frage antworten konnte. Die Fragen waren einfach. Fast zu einfach.
Noch einmal durchdachte ich jede meiner Antworten genau, falls sich weitere Fangfragen eingeschlichen hatten, doch es blieb dabei. Der Test musste von Oró absichtlich leicht gestaltet worden sein, denn seinen sonstigen Ansprüchen wurde er absolut nicht gerecht. Langsam setzte ich den Stift ab und kniff die Brauen zusammen.
Warum sollte Oró mich plötzlich so einen Test schreiben lassen?
Zunächst hatte ich angenommen, der Meister bestrafe mich mit Absicht für den gestrigen Abend, doch um eine wirkliche Strafe handelte es sich hierbei nun wirklich nicht. Im Gegenteil.
Der Grund konnte nur psychologischer Natur sein: Ich sollte ein Erfolgserlebnis verspüren und vielleicht erkennen, dass Hopfen und Malz noch nicht verloren waren – wie man so schön sagte.
»Ganz große Klasse«, zischte ich durch die Zähne und begann kurzerhand den Test erst in der Mitte zu falten, wieder aufzuklappen und dann die Ecken zu falzen. Schließlich stand ich auf und ließ das Blatt in Form eines Fliegers quer durch die Bibliothek gleiten. Er schlug einen Bogen über Orós Kopf und landete mit ein paar holprigen Wellen am anderen Ende der Halle. Ich absolvierte einen Hofknicks vor den verdutzten Augen des Meisters und verließ die Lehrstunde.
»Laylana, es ist doch kein Weltuntergang, wenn Ihr die Antworten nicht wisst! Gern können wir darüber sprechen!«, rief er mir nach, als ich mich schon am Ausgang befand. Die Stimme des Meisters wurde immer leiser, je größer die Entfernung zwischen uns wurde. Kurz darauf stand ich im Innenhof, wo die Uhr die vierzehnte Stunde des Tages schlug. Der Unterricht war beendet – zumindest, was mich betraf.
Wie sehr zweifelte mein Bruder an mir, dass er etwas so Erniedrigendes billigte oder gar vorschlug? Niemand konnte mir erzählen, dass der Test allein auf Orós Mist gewachsen war. Natürlich hatte Jaromir die Finger im Spiel. Immerhin war er mein Vormund und Erzieher. Hielten sie mich beide denn wirklich für so dumm?
Ein unbeschreibliches Gefühl der Erniedrigung überkam mich. Es war eine Sache, mich immer wieder zurechtzuweisen und mir jedes Wort vorgekaut in den Mund zu legen. Aber mir erst mehr Verantwortung zu versprechen und dann mit so einer kindischen pädagogischen Taktik zu kommen, verletzte meinen Stolz und mein Selbstwertgefühl. Meine Zähne gruben sich bei dem Gedanken in meine Unterlippe, während ich über den Innenhof zum Wasserfall lief. Ich schäumte vor Wut, doch dann wurde mir bewusst, was soeben vorgefallen war. Die Wut auf den Meister und meinen Bruder kanalisierte sich neu. Auf mich. Wieder einmal reagierte ich zu emotional. Mit dieser Aktion bewies ich von neuem meine Unreife. Das war es, wovon Jaromir die ganze Zeit sprach.
»Mist.«
Es blieb nur eine Möglichkeit: Ich musste zurück und mich bei Oró entschuldigen. Vielleicht bestand darin die Chance, einer Bestrafung zu entgehen. Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zur Bibliothek, wo der Meister seine Sachen zusammenpackte.
»Gebt mir den Test. Ich beende ihn«, befahl ich und hielt die Hand fordernd vor seine Nase. Der Meister sah nicht auf, sondern fuhr unbehelligt mit dem Einpacken seiner Lehrbücher fort. »Wieso sollte ich das tun, Königliche Hoheit? Ihr habt mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, was Ihr davon haltet.«
»Ich habe meine Meinung geändert. Also her damit!«
Oró schloss seine Tasche und schulterte diese. »Das habt Ihr offensichtlich. Aber zu spät. Euch muss endlich bewusst werden, was für Konsequenzen Euer Handeln hat. Oftmals gibt es kein Zurück, Laylana.«
Wieso versagte er mir die Chance, den Test zu beenden? Sah er denn nicht, was es mich kostete, zurückgekehrt zu sein? Wortlos humpelte er an mir vorbei zu seinem Arbeitszimmer, welches im hinteren Teil der Bibliothek lag. Ich blieb mit dem Gefühl des Verlorenseins zurück, während mir heiße Tränen über die Wangen liefen. Mein Hirn versuchte, eins und eins zusammenzuzählen, doch begriff nicht, warum mir auch diese Aufgabe missglückt war. Es schmerzte, dass ich meine einzige Chance auf Unabhängigkeit bereits nach wenigen Stunden verspielt hatte. Selbstverständlich würde Meister Oró meinem Bruder umgehend Bericht erstatten und ich konnte nichts dagegen tun. Jaromir würde mir nie wieder sein Vertrauen schenken. Wenn er es überhaupt jemals getan hatte.
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und fasste mich. Was man nie hatte, kann man auch nicht verlieren, dachte ich und versuchte, das unangenehme Gefühl des Versagens zu verdrängen. Doch selbst, als ich auf den Innenhof zurücklief, quälte mich das Ärgernis noch. Die Statuen links und rechts an den Säulen waren eingeschneit und blickten mir verhohlen hinterher, als meine Schritte immer schneller wurden. Vereinzelt fielen noch immer dicke Flocken auf sie und den Gehweg herab, sodass die Gärtner es aufgegeben hatten, alles vom Schnee zu befreien. Ich lief durch das knöcheltiefe weiße Gebilde und hinterließ ein knarzendes Geräusch in der sonst so friedlichen Stille des Nachmittags.
In mir tobte es.
Bis eine mir allzu bekannte Stimme ertönte. »Lay! Laylana! Lay, jetzt bleib doch mal stehen!« Es war Sayen. Ausgerechnet jetzt musste er aus den Ställen gekommen sein.
Seine Schritte hinter mir wurden schneller und schneller, dann hielt er mich an der Schulter fest. Ich entriss mich ihm und lief weiter. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen? Hast du nicht Unterricht?«
Mühelos holte mich der Elf mit seinen langen Beinen ein und linste fragend über meine Schulter. Ich wedelte sein Gesicht mit der Hand fort und fletschte die Zähne wie ein Zarkos. »Lass mich in Frieden, Sayen. Zisch ab!«
Sayen blieb stehen und ich wusste, dass er sich übertrieben verbeugte. Das tat er immer, wenn ich überreagierte.
»Verzeiht, Königliche Hoheit! Ich bitte vielmals um Vergebung. Wie konnte ich mich nur erdreisten!«

Ich hasste es, wenn er das tat.
Mit einer schnellen Bewegung drehte ich mich zu ihm um und boxte meinem besten Freund nicht gerade sanft aufs Schlüsselbein. Sayen warf sich daraufhin in den Schnee und begann ein theatralisches Jammerspiel.
»Danke, Königliche Hoheit! Ich danke Euch für diese Zurechtweisung. Nichts anderes habe ich verdient. Bitte schlagt fester zu! Schlagt mich! Ja!«
Das war zu viel. Wie er sich dort im Schnee wand und stöhnte – da konnte niemand ernst bleiben! Aus einem Schmunzeln wurde Gelächter. Das Lachen erfasste mich so sehr, dass ich das Gleichgewicht verlor und Sayen just in diesem Moment seine Chance witterte und mich zu sich auf den Boden zog. Er griff meine Hand und tat so, als würde er sich damit selbst ins Gesicht schlagen. Dabei machte er anzügliche Geräusche, die mich erröten ließen.
»Ja! Fester! Fester! Ja!«
Ich versuchte, ihm die Hand zu entziehen, scheiterte aber kläglich. »Sayen, hör auf damit!« Ich lachte mit einem allmählich verzweifelten Unterton. Doch Sayen dachte nicht daran und führte weiter die Show seines Lebens auf.
»Sayen, bitte. Ich bin nicht in der Stimmung«, versuchte ich es ein letztes Mal.
»So?« Der Elf hielt abrupt inne und stützte sich auf. »Dann missdeute ich dein Lachen also?« Seine grünen Augen verharrten auf mir und suchten nach der Wahrheit. Er wusste, dass ich bisweilen überreagierte, versuchte aber dennoch, meine Sorgen immerzu ernst zu nehmen. »Wie schlimm war es denn wirklich?«
Ich seufzte und erklärte ihm die Situation. »Jaromir und ich haben ausgemacht, dass, wenn ich mich fortan wie eine Regentin benehme, er mir mehr Freiheiten lässt und mich nicht mehr bevormundet.« Sayen strich mir den Schnee aus dem Haar und schaute erfreut. »Ja und? Ist doch toll!«
»Nein. Es hat keinen halben Tag gedauert, da habe ich Orós Test in einen Papierflieger verwandelt und bin aus der Stunde geflüchtet. Und als ich zurückgekehrt bin, um mich zu entschuldigen, hat er mich stehen lassen. Welche Regentin tut denn so was?«
»Mhm«, machte der Elf und überlegte. »Dafür, dass du gern austeilst, steckst du erstaunlich schlecht ein.«
»Ich teile nicht aus. Ich hasse es nur, wenn man Spielchen mit mir treibt und mich behandelt, als wäre ich ein schwer erziehbares Kind!«
Sayen kniff mich mit einem Mal heftig in den Arm. Der Schmerz zuckte durch meinen Körper und im Affekt schlug ich den Elf erneut.
»Au! Was soll das?!« Er musste übergeschnappt sein.
»Leg dir eine dickere Haut zu, Lay. Und schlag nicht immer sofort zurück, wenn dir etwas nicht passt.«
Gerade wollte ich etwas unfassbar Gemeines erwidern, als mein bester Freund einen Finger hob und warnend schaute. Da verstand ich, was er mir sagen wollte.
Sayen lächelte und rieb über die schmerzende Stelle an meinem Arm. »So viele werden dir in der Zeit deiner Regentschaft noch wehtun. Körperlich und seelisch. Aber du entscheidest, wie nah du sie an dich heranlässt. Und dafür brauchst du eine dicke Haut. Und etwas mehr Selbstwertgefühl.«
Ich schnaubte.
Selbstwertgefühl? Ich war die verdammte Prinzessin des Wasserreichs. Tochter von Layruca Valengades und bald mächtigste Herrscherin über vier Welten. Ich kannte meinen Wert.
»Vielleicht sollten wir eine Liste führen«, fuhr Sayen fort.

»Um deine Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Für jeden Ausraster gibt es einen Strich. Erlaubt sind drei kleine Ausraster oder ein großer. Und wenn du über die Maximalanzahl kommst, übernimmst du einen Tag Stallarbeit.«
»Haha, darauf lasse ich mich bestimmt nicht ein. Wer weiß, was du schon als Ausraster geltend machst. Am Ende übernehme ich deinen Job für den Rest meines Lebens. Davon profitierst nur du, mein Freund.«
»Das liegt bei dir.« Sayen lachte und schien sichtlich zufrieden mit seinem Vorschlag.
Ich tippte mir an den Kopf und schüttelte ihn entschlossen. »Niemals.«
»Na gut. Fein. Was hältst du davon, wenn wir stattdessen vor dem Abendessen noch eine Runde ausreiten? Das entspannt dich bestimmt.«
Sayen wartete meine Antwort nicht ab, sondern zog mich an den Händen hoch auf die Füße. Dann klopfte er den Schnee von seiner Kleidung und nickte Richtung Stall. Diese Idee gefiel mir weitaus besser und das Wetter schien perfekt dafür.
»Von mir aus können wir auch die ganze Nacht ausreiten«, meinte ich, »weil Jaromir bestimmt schon erfahren hat, was passiert ist. Und noch mehr enttäuschte Gesichter verkrafte ich heute nicht.«
Sayen neigte verständnisvoll den Kopf und beschwichtigend meinte er: »So schlimm wird es schon nicht. Erstmal besiege ich dich bei einem Wettrennen!«
Er ging in die Knie und machte Anstalten, zum Sprint anzusetzen. Der Eifer packte mich schneller, als mir lieb war, und sofort tat ich es ihm gleich.
Sayen begann, rückwärts zu zählen. »Drei – zwei – eins …«
Statt einem »Los« traf mich eine Hand voll Schnee mitten ins Gesicht und der Elf düste lachend davon. Mir blieb keine Zeit, mich über diese unfaire Aktion aufzuregen, und so folgte ich ihm querfeldein in einem Affenzahn. Mein Freund schmiss unterdes weiter kleine Schneebälle nach mir, doch konnte ich den Attacken mühelos ausweichen. Die Wachen an den Seiten des Innenhofes schauten nicht schlecht, als ich zwischen ihnen hindurchrannte oder sie als Schutzschild missbrauchte. Einige verkniffen sich ein Lachen, andere bekamen Sayens Attacken selbst zu spüren und wischten sich erbost und in ihrer Ehre verletzt den Schnee von der Uniform. Was sollten sie tun? Die zukünftige Regentin zurechtweisen?
Schnell begab ich mich hinter einen fast zwei Meter großen Zarkos und zielte aus sicherer Entfernung. Vor Lachen konnte ich mich kaum noch halten, als mein Schutzschild unverhofft einen Schritt zur Seite tat und mich ein Schneeball direkt am Kopf traf. Mein Lachen stockte kurz, als ich den Wächter in seiner Rüstung und ohne die geflügelte Federgestalt empört ansah, dann nahm ich meine Beine in die Hand und floh vor Sayen zu den Ställen. Er folgte mir weiter Schneebälle schleudernd und hustete bereits vom vielen Lachen.
Als wir am Eingang ankamen, war das Spiel vorbei und ich völlig durchgeweicht. Der Schnee tropfte aus meinen Haaren und das weiße Kleid klebte auf meiner Haut wie Folie. Auch Sayen sah mit seinen stacheligen roten Haaren aus, als hätte er eine Dusche genommen. Das Lachen drang nur noch stoßweise aus uns, denn Luft zum Atmen besaßen wir kaum noch.
»Ich habe gewonnen«, japste ich und trat durch den Eingang der Ställe. Sayen verdrehte die Augen und verbeugte sich sarkastisch. »Ich gratuliere.«
Angeekelt von der Nässe zerrte ich den nassen Stoff von meiner Haut und betrachtete den Schaden genauer. »Jaromir flippt aus, wenn er sieht, was du mit dem Kleid angestellt hast.« Der Elf hob eine Braue, als zweifle er an der Ernsthaftigkeit der Situation. »Das ist doch nun wirklich kein Problem für dich.«
Ein verschmitztes Lächeln zierte mein Gesicht, als ich in die Hände klatschte und kurz in mich hinein lauschte. Jene Kraft, die nur die Regentenfamilien besaßen, war nicht mehr als ein Gefühl. Ein leuchtendes Pulsieren in jeder Zelle meines Körpers. Es war elektrisierend und wärmend zugleich.
Was genau ich tat, wenn ich das Wasser in jedweder Form befehligte, konnte ich nur schwer in Worte fassen. Ich konnte es einfach. Es gehörte zu mir und war ebenso natürlich wie mein Herzschlag oder das Bedürfnis zu atmen. Es fiel mir sogar schwer, mich in Bürger hineinzuversetzen, die diese Fähigkeit nicht besaßen, da ich diese Kraft von Geburt an in mir trug.
Kribbelnd floss die Energie durch meinen Körper. Das Wasser in dem feuchten Stoff erwärmte sich und stieg in kleinen Dampfwolken aus den Fasern. Sayens Augen funkelten und als das Kleid vollständig getrocknet war, lächelte er über das ganze Gesicht.
»Ich wünschte, ich könnte das auch«, sprach er und lief zügig in die Sattelkammer.
Dass es keine Pferde waren, die der Palast beherbergte, war allgemein bekannt. Der Ort, an dem wir uns befanden, bestand aus weißem, besonders hitzeresistentem Mauerwerk und einem Überdach aus Glas, durch welches man an guten Tagen den Himmel sehen konnte. Heute verdeckte jedoch eine dicke Schicht aus Schnee den Ausblick.
An den Seiten ermöglichten bogenförmige Tore den Ausgang der gefährlichen Kreaturen, die vor wenigen Jahrhunderten noch einzig und allein in Lanestencia zu finden gewesen waren. Drachen – eine Spezies, die mein Vater einst mit nach Marambos gebracht hatte – lebten hier versorgt von Sayen. Die Tore waren im Moment geschlossen, da Brutzeit herrschte und die Weibchen Ruhe benötigten. Drei von ihnen lagen zusammengerollt auf dem Stroh und dösten vor sich hin. Als sie uns bemerkten, hoben sie die Köpfe und Rauch trat aus ihren Nüstern. Ein Weibchen knurrte tief. Sayen legte den Sattel ab und ging zu ihr, um ihr das Maul zu streicheln. Die Schuppen des Tieres schimmerten grau und weiß wie die Oberfläche eines Gletschers. Es handelte sich um eine besondere Gattung, die den kalten Temperaturen in Marambos gewachsen war. Allein der Kopf des Drachen maß an die zwei Meter, was auf die Gesamtgröße schließen ließ. Dementsprechend groß waren die Ställe, da insgesamt zehn Tiere hier Platz fanden.
Und für all das war Sayen verantwortlich. Kaum einen anderen ließen diese wunderschönen Geschöpfe so nah an sich heran. Er war ihr Vertrauter und Beschützer. Seine Aufgabe war die Pflege, Aufzucht und Dressur. Kein ungefährlicher Job. Nicht selten kam es vor, dass er mit drei gebrochenen Rippen zurückkehrte – oder einem gebrochenen Fuß. Neulich erst waren es die Nase und der mittlere Finger der linken Hand gewesen. Wenn es nach meinem Bruder ginge, so hätte er mir das Reiten gänzlich untersagt – nicht nur bei den Drachenkämpfen. Da aber Mutter und Vater einst selbst leidenschaftliche Flieger gewesen waren, konnte er nur schwer dagegen argumentieren.
»Wo sind die anderen?«, fragte ich und sah mich verwirrt in den sieben leeren Gehegen um. Mit brütenden Weibchen konnte nun wirklich niemand ausreiten. Zumindest, wenn einem das eigene Leben lieb war.
»Anscheinend auf der Jagd.« Sayen durchforstete noch einmal jeden Schlafplatz und stemmte die Hände in die Hüften. Offensichtlich hatte ihn niemand darüber informiert. Zumindest las ich das in seinem verkniffenen Gesicht und der deutlichen Verwirrung darin. »Seltsam. Normalerweise lassen wir sie erst morgen wieder zur Jagdwoche frei.«
Ich spürte, wie Sayen zunehmend unsicherer wurde und zu schwitzen begann. Sieben verschwundene Drachen konnten bedeuten, dass sich der Stallbursche einfach nur im Tag geirrt hatte. Sie konnten aber auch bedeuten, dass Sayen sieben lebensgefährliche Bestien im Umkreis von mehreren hundert Kilometern suchen und einfangen musste.
»Ich verstehe das nicht«, murmelte er und lief auf und ab. Er griff nach seinem Sponser, einer Art Glasbildschirm mit Hologramm-Funktion, und wählte eine Nummer. Niemand nahm ab. Sayen fluchte in Elfensprache und steckte das Gerät wieder ein. Keine Sekunde später nahm er es wieder aus der Tasche und wählte erneut. Diesmal verschickte er eine AudioBotschaft.
»Heli, ich schwöre, wenn du nicht sofort rangehst, reiße ich dir eigenhändig den –«, er stockte und kniff Lippen und Augen zusammen, um sich zu fangen. »Ruf mich sofort zurück, sobald du das abhörst!«
Missmutig verstaute er den Sponser und schaute mich entschuldigend an. »Lay, es tut mir sehr leid. Ich weiß beim besten Willen nicht, wo die Drachen sind.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Mich überkam eine Vermutung. »Ist es nicht seltsam, dass die Drachen ausgerechnet jetzt verschwunden sind, nachdem ich mich in der Nacht davongeschlichen hatte?«
Sayens Augen weiteten sich. »Du meinst … «
»Genau. Jaromir wird dafür gesorgt haben, dass ich die nächste Zeit nicht noch einmal heimlich verschwinden kann.« Das war nicht unbedingt eine seiner schlaueren Ideen, immerhin griff ich nur im Notfall auf unsere Drachen zurück.

Ihr Aussehen war einfach viel zu auffällig. Mein Bruder wollte mir vermutlich damit zeigen, dass er immer noch über mich und meine Aktivitäten bestimmte – und er mir trotz unserer Abmachung misstraute.
Das leuchtete selbst Sayen ein. Er versuchte oft, zwischen meinem Bruder und mir zu vermitteln und unsere Beziehung aufrecht zu erhalten, aber diesmal konnte selbst er nicht wettmachen, was Jaromir damit provoziert hatte. Und ich hatte endgültig die Nase voll.
»Fein. Er hat mir offensichtlich nie ernsthaft eine Chance gegeben. Dann gibt es auch keinen Grund für mich, länger nach seinen Spielregeln zu spielen.«
Meine Fingerspitzen kribbelten, als ich meine Energie ballte und Eis und Schnee zusammenrief. Das Grölen der Bestie hallte wie ein unheilvolles Unwetter zwischen den weißen Steinen wider und ließ den Schnee vom Glasdach rutschen.

Jaromir

»Jetzt ist Schluss! Das ist die bisher größte Blamage für das Wasserreich! Niemals zuvor hat sich eine Regentin derart anmaßend und unverschämt verhalten!«
Die Wut in den Worten des Außenministers Theoderich von Viskayn war nicht zu überhören. Die drittmächtigste Person in Marambos stützte sich von Zornesfalten gezeichnet mit beiden Händen auf dem ovalen Tisch des Kriegssaales ab, der inzwischen als Konferenzsaal diente, während alle Blicke auf mir ruhten. Auf meinem Platz lag eine Zeitung, deren Titelseite nicht prekärer für das Erbe meiner Familie hätte sein können.
»Noch ist sie nicht Regentin, sondern lediglich Prinzessin, Herr Außenminister«, warf ich beschwichtigend ein, um die Schwere des Vergehens meiner Schwester herunterzuspielen. Mit mäßigem Erfolg.
»Aber sie wird es sein!«, schrie Theoderich zurück und schlug mit der Faust auf den Tisch. »So oder so – sie ist eine Schande für die Dynastie! Ihr Respekt gegenüber dem Haus Valengades könnte kaum geringer sein!«
Die Aussage des Ministers traf mich wie ein Fausthieb in die Magengrube. Ich verstand, woher sein Zorn rührte – und auch die Sorge, die in den verbitterten Äußerungen mitschwang. Nichtsdestotrotz war es meine Schwester, über die er sprach.
»Mäßigt Euch, Theoderich«, knurrte ich.
Der Elfenbeinstuhl des Ministers rückte unter lautem Knarzen zurück, als der kräftige Mann seiner Wut Luft machte. »Dies ist das mächtigste Reich aller Zeiten. Die Macht und der Reichtum Marambos’ gehen zurück auf eine Jahrtausende überdauernde Regentschaft von begnadeten Herrschern, die stets nichts als das Wohl des Wasserreichs im Sinn hatten. Doch Laylana Valengades besitzt nichts, was sie dazu befähigt, dieses Reich zu führen. Sie ist vorlaut, unreif und darüber hinaus von mäßigem Verstand. Sie besitzt weder das strategische Geschick Eurer Großmutter noch die Stärke Eurer Mutter. Darüber hinaus scheint ihr das Wohl des Reichs völlig gleich zu sein …«
Die restlichen Worte Theoderichs drangen bereits nicht mehr in mein Ohr. Die Zeitung unter meinen Händen zerknitterte, während ich Kopf und Blick gesenkt hielt, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Selten erfassten mich Gefühle oder Worte derart heftig, dass ich die Beherrschung verlor. Lays Vergehen und die beleidigenden Worte Theoderichs brachten mich allerdings an meine Grenzen. Ich schätzte den Minister. Zweifellos war er einer der fähigsten Männer an diesem Tisch, was die zahllosen Abzeichen, die er mit Stolz an seiner Uniform trug, verdeutlichten. Sie zeugten von seiner glanzvollen Karriere, welche einst auf dem Schlachtfeld des Großen Krieges begonnen hatte, und dem Dank des Reichs für seine Verdienste. Und sie waren nicht die einzigen Zeugen seiner Taten. Narben von tiefen Schnitten zeichneten sein Gesicht, ließen seinen weißen Bart unregelmäßig wachsen und verliehen seiner Erscheinung etwas Bedrohliches. Hinzu kamen seine hohe Gestalt und die stechend grauen Augen, die so viel Leid gesehen hatten, dass ihr Blick kalt und gefühllos geworden war. Selbst das Feuerreich äußerte einmal: Theoderich von Viskayn könnte auch Lanestencianer sein, so sehr macht er einem Angst. Seine Meinung besaß einen hohen Stellenwert, trotzdem ging er diesmal zu weit.
Ehe ich mich versah, hatte ich mich erhoben und stand dem Außenminister gegenüber. »Ich warne Euch ein letztes Mal, Minister. Wählt Eure Worte mit Bedacht.«
Meine Stimme rollte wie ein Erdbeben durch den Saal und ließ die restlichen Minister und Generäle erstarren. Doch Theoderich vernahm nur noch das eigene Wort. Und so bemerkte er nicht, auf welch dünnem Eis er sich bewegte.
»Das Erdreich wartet nur darauf, an unserer statt die Führung zu übernehmen! Und im Gegensatz zu Laylana – und ich kann kaum glauben, dass ich das sage – scheint Prinzessin Ro weitaus geeigneter für diese Position.«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Das Erdreich war inzwischen kein Feind des Wasserreichs mehr, doch gab es eine gewisse Erbfeindschaft zwischen Marambos und Egá und die zukünftige Erdregentin Ro meiner Schwester vorzuziehen, glich beinahe Hochverrat. Es handelte sich um eine Beleidigung gegenüber meiner Familie und am liebsten hätte ich ihn gleich hier und jetzt dafür zur Rechenschaft gezogen.
Als die Situation zu eskalieren drohte, griff ein alter Freund der Familie ein. Großpriester Pharell.
Wahrscheinlich war er der älteste Mann in ganz Marambos, wenn nicht sogar der Vier Reiche. Doch ein Geist wie der Seine suchte seinesgleichen. Seine Stimme nahm der Unterredung ihren bedrohlichen Charakter.
»Ich erinnere mich daran, dass einst eine Prinzessin zu spät und völlig durchnässt zu ihrer eigenen Krönung kam«, sprach er mit schwacher Stimme, aber ein Lächeln zierte seine Lippen. Seine faltigen Hände lagen zitternd auf einem Stock, während sein Rücken so krumm war, dass er kaum noch zu sitzen vermochte. Die Stimme des alten Mannes ließ uns verstummen, selbst den Außenminister. Ein beruhigendes Gefühl ergriff den Saal, als hätte jemand die Lunte einer brennenden Bombe gelöscht. Ich wusste genau, worauf er anspielte. Jedermann kannte die Geschichte. Layruca Valengades galt bis zu ihrer Krönung – selbst nach ihrer Hochzeit mit dem lanestencianischen Prinzen – als hoffnungsloser Fall. Nie hätte jemand zu träumen gewagt, dass sie einmal die mächtigste und angesehenste aller Regentinnen werden würde.
Pharell drehte sich zitternd zu den Ministern. »Meine Herren, seien Sie versichert; wenn die Prinzessin auch nur ein wenig so ist wie ihre Mutter, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Und ich erkenne so viel in ihr, dass es mir manchmal scheint, als stünde wieder die junge Layruca vor mir.«
Er versuchte zu lachen, doch Husten vereitelte die Bemühung. Ich beruhigte mich und strich dem Priester zu meiner Rechten sanft über die Schulter.
»Deine Worte werden ihr ganz und gar nicht gefallen.«
Lay hasste es, mit Layruca verglichen zu werden. Dass sie aus Tradition dieselbe Vorsilbe im Namen trugen, genügte ihr. Doch wie Pharell soeben angemerkt hatte; die Gemeinsamkeiten waren nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn die Erinnerung an unsere Eltern in meinem Kopf bereits verblasste, Lays Aussehen und ihr Auftreten, selbst ihre Stimme erinnerten mich tagtäglich an die ehemalige Regentin von Marambos. Auch ich besaß das silberne Haar, welches so charakteristisch für die Valengades war, doch Lay versinnbildlichte im besonderen Maße das Erbe der Großmacht.
Anscheinend war es aber nicht nur das Aussehen, welches mich und auch unseren Priester den Vergleich ziehen ließ.

»Und zu Eurer Äußerung bezüglich Laylanas Fähigkeiten …« Pharell ging nicht auf meine Worte ein, sondern wandte sich direkt an Theoderich. »Laylana ist mehr als nur talentiert. In vielerlei Hinsicht ist sie sogar begnadet. Ihr würdet keine Minute gegen sie bestehen. Aber Euer Blick ist getrübt von Vorurteilen. So könnt Ihr gar nicht sehen, zu wem sie sich entwickelt und wie schlau sie ist. Ich hingegen erkenne, dass sie bereits stärker und klüger ist, als es Layruca zu ihrer Zeit war.«
Gedankenverloren faltete ich die Hände und stützte das Kinn auf. Meine Schwester war nicht dumm, davon war ich überzeugt – auch wenn Viskayn das anders sah. Der Test, den Oró sie heute schreiben lassen wollte, ging über ihr bisher erlerntes Wissen hinaus. Er wollte damit überprüfen, ob sie sich lediglich dumm stellte – beziehungsweise schauen, was wirklich in ihr steckte. Auch teilte ich Pharells Ansicht über Lays Können, doch nach außen hin sahen viele Bürger nur das Bild der missratenen Prinzessin. Selbst der Außenminister ihres eigenen Reichs erkannte Lays wahres Wesen nicht. Nur leider war – und in dem Punkt musste ich Theoderich leider zustimmen – die Außenwahrnehmung ebenso entscheidend. Zumindest, was unsere Position und Lays bevorstehende Krönung betraf. Denn vornehmlich ging es dabei um eines: die Demonstration von Macht und Herrschaft.
»Was auch immer Ihr glaubt, in ihr zu sehen; solche Schlagzeilen darf es nicht mehr geben!«, intervenierte der Minister erneut und deutete auf die Zeitung.
»Es steht Euch frei, was Ihr tut, Eure Majestät, doch es muss etwas unternommen werden! Laylana muss sich benehmen, wie es sich für eine Prinzessin und zukünftige Regentin gehört. Ich plädiere für härtere Vorschriften, härteren Unterricht und härtere Strafen.«

Loós, ein Mann mittleren Alters mit schwarzem Haar und ebenso grauen Augen, wie ich sie besaß, lachte müde.
»Als wenn das einen Unterschied machen würde. Das Gesetz sieht vor, dass Laylana Valengades an ihrem zweihundertsten Geburtstag Regentin über Marambos und Großregentin über die Vier Reiche wird. Alles andere ist irrelevant. Diese Schlagzeile ist irrelevant. Laylana wird Regentin, Viskayn.«
Ich seufzte und schob den Zeitungsartikel, welcher aus einem gewaltigen Foto und einer noch deutlicheren Überschrift bestand, von mir. Ich wusste, dass viele der anwesenden Mächtigen jenes Gesetz in diesem Augenblick verfluchten. Wenn es nach ihnen ginge – das wusste ich –, sollte ich die Führung des Reichs weiterhin übernehmen, denn auf meine Schwester würde niemand in diesem Raum setzen.
»Ich habe bereits etwas unternommen und bitte Sie lediglich um Geduld, meine Herren. Meine Schwester wird ihren Aufgaben gewachsen sein. Davon bin ich überzeugt.«
Die Minister wirkten nicht überzeugt, vor allem Theoderich von Viskayn. Viele tauschten abschätzige Blicke, während ich sorgenvoll auf das Bild blickte, welches meine Schwester bei ihrem gestrigen illegalen Drachenkampf zeigte. Eine Maske verdeckte ihr Gesicht, doch die charakteristischen silbernen Haare ließen nicht viel Raum für Spekulationen, worauf auch die Überschrift der Schlagzeile anspielte: Ist das die zukünftige Regentin unseres Reichs?
»Du solltest sie lieber in die täglichen Pflichten einbeziehen, Jaromir«, schlug Pharell vor. »Lass sie Teil davon sein und gib ihr das Gefühl, gebraucht zu werden. Es ist ihr gutes Recht, bei Sitzungen wie dieser dabei zu sein. Sie hat auch eine Stimme – und die mächtigste bald obendrein. Ihr habt sie schon viel zu lange ferngehalten.«

Pharells Vorschlag traf auf harte Kritik, woraufhin die Minister in laute Diskussionen verfielen.
Ich bemerkte, wie sich die Gesichtsfarbe von Theoderich angesichts Pharells Vorschlag veränderte. Selbst die sonst so beherrschten Generäle hoben wild gestikulierend die Fäuste. Mein Blick schweifte von Minister zu Minister und kurzzeitig überlegte ich, die Sitzung zu beenden, obwohl wir noch nicht einmal zum eigentlichen Tagesordnungspunkt gekommen waren. Wenn sie wüssten, dass ich dasselbe beabsichtigte, träge das sicherlich zu keinem friedlichen Ausgang bei. Es war längst überfällig, dass Lay auf ihre Aufgabe vorbereitet wurde, doch hatte es bisher immer Gründe gegeben, die dagegensprachen. Beispielsweise ihr unsittliches Verhalten und ihre provokativen Äußerungen. Um des Friedens willen hatte ich lange Zeit den Bitten der Mächtigen, Lay vorerst nicht in die Politik einzubinden, nachgegeben. Möglicherweise aber war dies der falsche Weg. Sollte ich meine Berater übergehen und etwas anderes versuchen?
Ich war am Ende. Mein Kopf schmerzte und ich war es leid, meine Schwester abwechselnd verteidigen und wie ein Kleinkind behandeln zu müssen. Ich wusste nicht, welche Entscheidung die richtige war.
Plötzlich schob mir jemand eine Akte zu, die ich schon vor Tagen aus meinem Kopf verbannt hatte. Fragend sah ich zu meinem Leibwächter, der diese Idee soeben wortlos auf den Tisch gebracht hatte. Sollte das wirklich die Lösung sein? Bisher hatte ich den Vorschlag vehement abgetan. Doch nun öffnete ich das Schreiben erneut, während das Raunen und Schimpfen im Konferenzsaal weiter anhielt.
Mein Blick flog über die herausragenden Empfehlungsschreiben, den beeindruckenden Lebenslauf und blieben an einem ungewöhnlichen Namen hängen. »Das verzeiht sie mir nie.« Ich schluckte und fuhr mir mit den Fingern über die Lider. Mit einem Mal verebbten alle Geräusche.
Ich schaute auf und registrierte, dass die Blicke der Anwesenden an dem großen Panoramafenster klebten, hinter dem der Wasserfall des Palastes hinabstürzte. Der Konferenzsaal lag unterirdisch, unterhalb des Innenhofes und fern vom Geschehen im Palast. Für gewöhnlich bedeutete das eine ruhige Umgebung. Jetzt aber raste ein gewaltiger Schatten hinter den Wassermassen vorbei und lautes Geschrei ertönte. Im nächsten Moment krachte der gewaltige Rumpf eines Drachen durch die Fluten und an das massive Fenster, sodass das Innere des Saales erbebte. Gläser fielen um und Bilder stürzten von den mit Marmor verkleideten Wänden. Das Wasser spritzte zu allen Seiten von den Schuppen des Tieres weg, während es das Maul aufriss und eine Reihe dolchartiger Zähne entblößte. Sein Schrei war so grell, dass sich die Männer die Ohren zuhielten.
Der Drache krallte sich in die Mauer des Palastes und schmiegte den muskulösen Körper an die Rundung der Scheibe, wodurch er und der Palast eins wurden. Das Lichtspiel des Wassers, die einzige Lichtquelle im Innern des Saals, erstarb.
»Ist das …«, begann Theoderich, der wie vom Donner gerührt vor der Scheibe stand.
»Ein Drache aus purem Eis«, ergänzte Priester Pharell staunend. Da klopfte es von außen an die Scheibe. Mir stockte der Atem, als ich erkannte, wer dort in einem durchsichtigen, völlig durchnässten Kleid auf dem Rücken des Drachen saß.
Lay zeigte uns mit einer Geste an, dass wir uns leise verhalten sollten, während das Ganze für sie eine Art Versteckspiel zu sein schien.
»Unmöglich!«, rief Theoderich und die Farbe, die eben noch sein Gesicht geziert hatte, verließ ihn wieder.

»Wie macht sie das nur?«, raunten die Generäle. »Hat sie ihn etwa erschaffen?«
Pharell, der Einzige unter uns, der die Situation völlig anders zu sehen schien, klatschte begeistert in die Hände.
»Begnadet! Ich sage es ja.«
Während die Männer noch immer auf das Ungetüm und seine Reiterin starrten, schlug ich wutentbrannt die Akte vor mir zu und drückte sie Darcy an die Brust.
»Sag ihm, er fängt nächste Woche an!«
Ich erhob mich von meinem Platz und stürmte aus dem Konferenzsaal.

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Marambos Regentschaft

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An der Frauenkirche 1
01067 Dresden

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